Thomas Demand
Atelier, 2014
C-print
240 x 341 cm
Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Sammlung KiCo
© VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Zur Arbeit
Ausgeschnittene, farbige Papierbögen liegen auf einem Holzfußboden in einem Raum, der sich anhand einiger Indizien und nicht zuletzt aufgrund des Bildtitels als Atelier identifizieren lässt. Über diese wenigen, unspektakulären Details hinaus erscheint das Gezeigte mehr oder weniger belanglos. Erst das Wissen um den Kontext bzw. das konkrete Vorbild dieser aus Papier gebauten, menschenleeren Szene lässt alles in einem anderen Licht erscheinen. Es bezieht sich auf eine Fotografie von Lydia Delectorskaya, die vermutlich 1952, zwei Jahre vor dem Tod des bereits im Rollstuhl sitzenden Henri Matisse in dessen Atelier im Hôtel Régina in Nizza entstanden ist. Der Künstler hat dort seine berühmten „Gouaches découpées“ geschaffen.
In der Abwesenheit des Malers nehmen die farbigen Papierbögen die Rolle des Bild-Helden ein. In den Worten von Thomas Demand erscheinen sie wie „Negativformen, Antonyme von flachen Silhouetten und repetitiven Mustern, die von Kritikern wegen ihrer stumpfen Dekorativität mit einem ungläubigen Kopfschütteln beantwortet wurden. Aber die Reste auf dem Boden könnten zurück ins Spiel kommen, und selbst wenn sie es nicht tun, sind sie genauso bemerkenswert, weil sie eben das sind, was ein Studio oft in jene schwebende Welt verwandelt, die es sein kann. Wenn ein Prozess funktioniert, vor allem, wenn er sich um die Vorstellungen von Einfachheit und Schönheit dreht, wie sie hier herrschen, werden alle Schritte, alle Seiten, die nicht benötigten, die Abfälle und die Verlassenen diese Schönheit vermitteln – ebenso wie die Arbeit, die schließlich das Atelier verlassen wird. Aus fast Nichts etwas zu formen, durch Formen Bedeutung zu erlangen, das ist es, was dieses Bild verspricht.“ (Übersetzt nach www.tate.org.uk/tate-etc/issue-31-summer-2014/thomas-demand-on-matisse)
In Demands Atelier geht es mithin um die Produktivität der Erinnerung, für die das Bild ein unverzichtbarer Katalysator ist: Bild und Gedanke durchdringen einander. Es geht aber auch um grundsätzliche Fragen des künstlerischen Schaffens. Und es ist wohl auch nicht vermessen zu behaupten, dass Demand in diesem Bild auch sein eigenes Tun reflektiert, es zugleich historisch verortet.
CV
Der 1964 in München geborene Thomas Demand ist ein Künstler, der historische Fotografien aus Papier nachbaut, um sie dann zu fotografieren. Zudem fertigt Demand, der sich selbst auch als Bildhauer versteht, in ähnlicher Manier Filme an.
Ausgangspunkt seiner Bilder sind gesellschaftlich relevante Ereignisse der Geschichte bzw. deren bildliche Überlieferung. Sie werden in einem plastischen Prozess in Papierform überführt, sodann fotografiert und anschließend (in der Regel) zerstört. Der daraus hervorgehende fotografische Abzug verhält sich dabei in etwa zur Lebensgröße der nachgebauten Objekte, wobei Menschen nicht gezeigt werden. Deutlich wird mithin der Verweischarakter der Bilder als auch Themen wie Erinnerung und Gedächtnis, Original und Reproduktion oder Abbild und Wirklichkeit. Bei der Rezeption ist ein zusätzliches Wissen über das Abgebildete in der Regel unverzichtbar, da in vielen Fällen der Verweis auf die historische Referenz nicht unmittelbar präsent ist: Sehen und Wissen verweisen aufeinander.
Thomas Demand lebt in Los Angeles und Berlin, ist in vielen internationalen Sammlungen präsent und kann u.a. auf Einzelausstellungen im Museum of Modern Art, New York, der Neuen Nationalgalerie Berlin, dem Los Angeles County Museum, der National Gallery of Victoria, Melbourne, der Städtische Galerie im Lenbachhaus, München und im Kunsthaus Bregenz zurückblicken.
Literatur
- Thomas Demand, The Complete Papers, London 2018
- Veronika Tocha, Werk und Modell. Vom (Nicht-)Ereignis zur Fotografie bei Thomas Demand, Berlin 2017
- Thomas Demand, The Dailies, London 2015
- Thomas Demand, Nationalgalerie, Göttingen 2009