Editorial

Stefan Gronert

Die Frage wird immer wieder gestellt: Welches Buch soll ich lesen, wenn ich mich über die Geschichte der Fotografie informieren will?
Jeder Experte wird nun tief durchatmen – und dann vielleicht mit den Achseln zucken. Ja, natürlich, da gibt es die einschlägigen Bücher von Frizot, Kemp, Brauchitsch, Newhall oder die Bildbände des Museum of Modern Art, von Osborne und und und. Aber wirklich befriedigende Geschichten sind das nicht. Die Geschichtsschreiber tun sich heute schwer – und das obwohl die Fotografie fast hundert Jahre nach ihrer Erfindung in wunderbar (eigenartiger) Weise historisch „begriffen“ wurde: In dem mittlerweile legendären Essay „Kleine Geschichte der Photographie“ (1931) schien Walter Benjamin eine erste Antwort auf die Frage nach einem Überblick zu bieten. Nicht ganz ohne Tücken, aber immerhin: denn ohne dem Modell einer klassischen Chronologie zu folgen, kommt Benjamin in diesem wirkungsmächtigen Aufsatz in nicht gerade systematischer Form auf wichtige Kategorien und auch Positionen der frühen modernen Fotografie zu sprechen.

Die hier vorgelegte Homepage will nun Antworten auf die Frage liefern, wie sich heute, also im Anschluss an Benjamin (1892 – 1940) die Geschichte – oder besser gesagt: die Geschichten – begreifen lassen? Nach dem Ende der großen Erzählungen ist der nach wie vor ungebrochene Wunsch nach einer kompakten Geschichte jedoch als Illusion entlarvt. Also suchen wir nach kleinen Geschichten der Fotografie. Wobei diese Proklamation durchaus irreführend sein kann. Es geht schließlich nicht um DIE Fotografie schlechthin als vielmehr um künstlerische Fotografie, Bilder also, die im Kontext der Kunst relevant sind. Im Unterschied zu Benjamin interessieren Aspekte einer Technik- oder Sozialgeschichte des Mediums nur dann, solange sie eine kunsthistorische Bedeutung besitzen. Dabei wird keine Ansammlung von „Meisterwerken“ angestrebt. Vorgestellt werden zwar einzelne Fotografien, aber nicht nur bekannte Bilder, sondern auch weniger populäre, die gleichwohl für inhaltlich wichtige Ansätze der neueren Fotografie stehen und diese thematisieren. Dass es weitere Bilder geben könnte, ist damit nicht in Abrede gestellt: Geschichte ist ohne eine subjektive Komponente nicht denkbar.

Unsere „Geschichte(n)“ besitzen noch eine weitere Grenze, die soeben anklang, als vom Anschluss an Benjamin und der neueren Fotografie die Rede war. Eingedenk des Umstandes, dass die erneute künstlerische Emanzipation der Fotografie nach ihrer Etablierung in der Moderne und ihrem abrupten Ende in Europa erst in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wieder gelang, beschränkt sich der historische Rahmen hier weitgehend auf eben diesen jüngeren historischen Horizont. Einzelne Ausnahmen werden die Regel bestätigen.

Wie in den obigen Ausführungen bereits anklingt: Intensität und Konzentration, vielleicht auch der modische Begriff der „Verlangsamung“ sind die Leitideen des im Folgenden ausgeführten Vorgehens. Alternativ zur überfordernden, da unüberschaubaren Bilder-Flut des Alltags artikuliert sich hier dementsprechend auch ein Bekenntnis zum Einzel-Bild, welches – das gibt der Rahmen der Geschichtsschreibung unweigerlich vor – vom Wort begleitet wird. Bilder und Worte bzw. Begriffe bilden deshalb eine Sammlung von Konstellationen, die zusammen genommen ein Glossar zentraler Begriffe der Fotografie-Geschichte vor Augen führen sollen. Dieses Glossar suggeriert eine Systematik, die jedoch betontermaßen – und hier folgen wir erneut Benjamin – unvollständig bleibt. Die Idee einer Totalität oder gar einer (historischen) Logik wird nicht angestrebt. Andere Geschichten oder Erzählungen und Begriffe sind somit denkbar. Klassische Themen des Mediums wie „Abstraktion“, „Erzählung“ oder „Gender“ spielen dabei ebenso eine Rolle wie weniger ästhetisch vorbelastete Begriffe wie „Gebäude“, „Massenmedium“ oder „Konsum“. Analog hierzu beschränkt sich die Auswahl der vorgestellten künstlerischen Positionen dieser kleinen Geschichte(n) der Fotografie nicht allein auf Klassiker der Fotografie-Geschichte wie Ed Ruscha, Bernd und Hilla Becher oder William Eggleston, sondern integriert auch vielleicht weniger erwartbare Beiträge von Platino, Hannah Villiger oder Barbara Kasten. Geschichte ist kein abgeschlossenes Kapitel, sondern ein offener Prozess!

Diese Homepage ist bei alledem in Verbindung mit einer mehrteiligen Ausstellungsreihe des Sprengel Museum Hannover zu sehen. Sie verändert und erweitert sich kontinuierlich nicht nur, aber auch durch Ausstellungen, die erstmals im Sommer 2018 einsetzen, und verkörpert damit ein offenes, wachsendes Kompendium, auf das man immer wieder zurückgreifen kann und sollte. Im Unterschied zu den subjektiv kuratierten Ausstellungen ist sie als ein digitales Forum zur Geschichte der Fotografie zu verstehen, das auch anderen Stimmen und Sichtweisen Raum verschafft und zur Beteiligung einlädt.